Montag, 7. Dezember 2009

Kapitel 3

Kapitel 3


Geduldig wartet der Spiegel während sich die wuselige Kampfnickeule auf eine scheinbar lange aber nicht minder aufregende Geschichte vorbereitet. Flink zupft sich Schiel einige der schnell nachwachsenden Federn aus dem pummeligen Körper und häuft diese unter sich zu einem kleinen Hügel an. Dabei versucht sie, mehr oder weniger erfolgreich, mit den Flügeln das selbst gebastelte Sitzkissen vor den Tränen des Trübsaals zu schützen. Diese unablässig herabfallenden Wassertropfen entfalten dabei für die kleine Eule einen ganz anderen frustrierenden Charakter. Nach einem kleinen Moment Pause hüpft die kleine Schiel blitzschnell in den Federhaufen und mummelt sich in die weiche Unterlage mit Blick zum magischen Spiegel der Wahrheit. Tief atmet der professionelle Geschichtenerzähler mehrfach stoßartig ein und aus und legt dabei die nicht ganz klar zu erkennende Stirn in tiefe Denkfalten. Dann erhebt sie endlich das Wort und beginnt mit ihrer wunderlichen Geschichte.


„Lasst mich euch von der Welt da draußen berichten, wie ich sie kenne. Merkwürdige Dinge gehen in der Welt vor sich. Dinge, an denen alle Völker von den Cucurbiten und Karotenen, über die Nabanen bis zu den Appelliaten alle Geschöpfe Süd Salatoniens beteiligt sind. Doch will ich mit meiner Geschichte dort anfangen, wo alles vor knapp 40 Tagen begann...


Schon als ich am Morgen dieses verhängnisvollen Sommertages auf meinem Baum erwachte, barg dieser mysteriöse Zeichen in sich. Es war erneut Blot Modin, der Tag an dem alle drei Sonnen zur gleichen Zeit in der Mittagsstunde am Himmel standen. Gerüchte über die Ankunft des Propheten Nostradanuss an der Westgrenze des Mittelreiches in Gurkan verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in den Zentralreichen, so dass ich mich, neugierig wie ich seit jeher bin, auf den Weg zum Hofe Kaiser Gottliebs III machte. Die Karotenen führten in diesem Jahr den Vorsitz im Zentralrat der Vier.“ „Ja, die Karotenen spielten seit jeher eine große Rolle im Machtgefüge der Nationen.“ Warf der Spiegel seinen ergänzenden Kommentar in Schiels Geschichte ein. „Ähnlich den Bananen, gehörte auch das Volk der Karotten in der Entstehung der Welt zu den ersten Nationen, die vom Leben beseelt auf das Antlitz der Welt traten. Der erste unter ihnen war der berühmte und geliebte Kaiser Dietmar I und ihm folgten viele Brüder und Schwestern. Das Reich der Karotenen war reich an verschiedenen Landschaften und Bodenschätzen, jedoch schwer zu verwalten. So gab Kaiser Dietmar I in seiner Güte jedem seiner liebsten Brüder ein Stück Land und ernannte sie zu Fürsten. Mit der Zeit jedoch, als der glorreiche Kaiser verstorben war und die Thronfolge seines ältesten Sohnes nicht anerkannt wurde, zerstritten sich die Brüder und Schwestern und das Reich zerfiel in ein dezentralisiertes Splittergebiet aus zahlreichen Fürstentümern. Kämpfen die Fürstentümer noch heute gegeneinander um die Vormacht im Reich? Zu welchem Fürstentum gehört dieser Kaiser Gottlieb III?“


„…in den vielen Jahren die so vergangen sind waren die Fürstentümer geschwächt durch Krieg und Hunger und kaum eines war noch stark genug, sich allein in der Welt zu behaupten.“ Fügt die kleine Eule hinzu, während sie auf dem Federkissen hin und her rutscht, um die optimale Position für sich zu finden. „Aus der Asche dieses zerstörten Erbes Kaiser Dietmars I erhob sich Gottlieb III, ein Nachfahre aus der direkten Saftlinie Dietmars I, und bestieg den Thron des Fürstentums Groß Bereling. Die Fürsten erkannten in seiner Güte die Seele des längst verstorbenen Kaisers und priesen ihn in Ehren. So vereinte er die Teilgebiete zu einem großen Karotenenreich und wurde der neue Kaiser dieses blühenden Volkes. Inzwischen jedoch ist der Herrscher in die Jahre gekommen und das, ohne einen Sohn gezeugt zu haben. Die Karotenen bangten um ihr Reich und fürchteten sich vor einem erneuten Zerfall in Fürstentümer, doch... das sollte künftig kein Problem mehr darstellen.“ Auf Schiels Schweigen hin zeichnet sich ein deutliches, rotes Fragezeichen im Nebel des Spiegels ab. „Hierzu später mehr. Ich nehme sonst einen Großteil der Handlung vorweg.“ Der Prophet schlägt sich mit der imaginären Hand vor die imaginäre Stirn. Manchmal strapazierten die irrationalen Eigenarten der salatonischen Kreaturen seine rationale Geduld doch sehr. Doch er wollte sich nach 5000 Jahren nicht als schlechter Zuhörer entpuppen und lässt das Federvieh geduldig gewähren.


„Als ich mich gewaschen und geputzt hatte, dröhnten auch schon die Posaunen von den Wällen der kaiserlichen Festung über das Land und kündigten das Kommen des ungewöhnlichen Besuchers an. Die Anwesenheit einer Nuss in Süd Salatonien war seit jeher ein sehr seltenes Ereignis und so ließ ich das Frühstück ausfallen und begab mich unverzüglich, über die prächtigen Getreidefelder von Bereling hinweggleitend, zum Thronsaal. Auf dem Marktplatz verschärften sich die Gerüchte der letzten Tage, Nostradanuss sei mit üblen Neuigkeiten gekommen und nur der Kriegsrat der vier Reiche sei zu seiner Ankunft im Thronsaal geladen. Doch was wäre ich für ein Geschichtenerzähler, wenn ich diesem Ereignis fern geblieben wäre? Ein kleines Fenster, zur gering bewachten Seite der Mauer gewandt, war unachtsam offen gelassen worden und so drang ich heimlich durch das schillernde Mosaikfenster in die prachtvoll geschmückte Burg ein. In der Hektik des Augenblicks postierte ich mich unbemerkt auf einem schwach knarzenden Dachbalken über dem Thron, von dem aus ich gut sehen und noch besser hören konnte.


Bedrohlich quietschend schob sich das mächtige Burgtor in das Innere des Raumes vor und aus dem Schein der drei Sonnen trat der Prophet Nostradanuss in den schwach beleuchteten Thronsaal. In wallende weiße Gewänder gehüllt und durch einen langen grauen Bart gezeichnet, schlich der alte Mann vom Volk der Erdnüsse über den roten Teppich mit goldenen Rändern hinweg und verneigte sich ehrfürchtig vor Kaiser Gottlieb III, der ebenfalls von den Zeichen der Zeit angeschlagen, schwer atmend aber mit seinem stets gutmütigen Lächeln bekleidet, in seinem Thron saß. „Nostradanuss mein alter Freund! Wie lang mag das her sein?“ „Zwanzig...“ Nur röchelnd kam die Antwort aus dem Mund der Erdnuss, so dass diese sich erst ausgiebig räuspern musste. „Verzeihung. Zwanzig Jahre und vier Monate mein Herr. Auf den Tag genau.“ In Erinnerungen schwelgend nickte der große Kaiser, kam aber schnell zum Ernst der Lage zurück und sprach mit bestimmtem Unterton: „Jedoch sind wir nicht hier um alte Freundschaften zu pflegen. Die Boten berichteten, dass du Neuigkeiten von großer Wichtigkeit bringst. Was bedrückt dich alter Freund?“ Langsam wandte Nostradanuss dem weisen Herrscher den Rücken zu und schritt auf seinen gewundenen Stab gestützt in die Mitte des Thronsaales. Eine Handlung, die gewiss nicht jedem im Reich gestattet war. Mit einem Ruck wandte er sich herum und ein heftiger Wind schmetterte durch den Raum, riss Wandteppiche und Banner von ihren Verankerungen und ließ die langen Gewandungen des Propheten flattern. Den Stab hatte er weit von sich geschleudert und die Nuss bot einen verstörenden und beängstigenden Anblick, als sie sich in die Lüfte erhob. Eine von Donner und Blitzen begleitete Stimme, die selbst die mutigste Wache in Mark und Bein erschütterte, schmetterte durch die Halle:


Törichte Sterbliche

Hört meine Worte!

Es droht das Ende aller Tage!


Geht und schickt die tapfersten Helden,

Antworten in der Höhle des Schicksals zu finden.

Mut und Tapferkeit oder der Untergang droht

Es ist unvermeidlich!


„Du hast die Weißsagung eines Nusspropheten gehört?!“ Ist es lediglich Überraschung in der Stimme des Spiegels? Nein... da ist mehr. Angst? Vielleicht sogar Panik? „Nur wenige können von sich behaupten solche Worte vernommen zu haben. Die meisten ereilte zugleich ihr prophezeites Schicksal. Die Nüsse leben auf ihre eigene Entscheidung außerhalb der Zivilisation und wagen sich nur alle paar Jahrzehnte in die Zentralreiche, um wichtige Kund aus ihren Visionen zu verbreiten. Von ihren kamen nur Wenige von den Urbüschen herab und da sie es pflegen ihr Leben als Einsiedler zu verbringen, gibt es keine bekannten Dörfer in denen sich die Generationen fortsetzen. Doch diejenigen unter den Nüssen, die das Leben in der Einsamkeit gewählt hatten, erlangten dabei zuweilen erstaunliche philosophische und prophetische Kenntnisse. Manch einer behauptet, sie hätten ihre letzten Dörfer damals direkt an „den Rissen“ erbaut, die der Himmel bei seinem Sturz auf die Welt hinterlassen hatte und hätten ihre Weisheit direkt aus der magischen Kraft der Himmelsreste gezogen. Einige von ihnen sind vielleicht heute noch in eurer Welt bekannt wie zum Beispiel Nussferatu, Nostradanuss oder Konfuzinuss. Das Grün gewährt diesen asketisch lebenden Bewohnern der höchsten Gipfel und tiefsten Täler von Zeit zu Zeit Einblicke in seine Pläne und so traf schon manche Prophezeiung der Nüsse zu, wenn auch viele von ihnen dem Wahnsinn verfielen.“ Schiel nickt halbherzig. Wahnsinn und Weisheit befinden sich bei den Nüssen so dicht beieinander, dass wohl beides stets Hand in Hand geht.


„Als auch die letzte Silbe mit all ihrem Nachhall im Saal verklungen war, stürzte der Weise unsanft zu Boden. Sofort eilten zwei Wachen herbei, reichten ihm seinen stützenden Stab und halfen ihm wieder auf die Beine. Alle Anderen standen entsetzt in der Halle, die von Totenstille erfüllt war. Niemand wagte es für einen Moment auch nur ein einziges Wort über dieses ungeheuerliche Ereignis zu verlieren. Dann jedoch begann schlagartig panisches Diskutieren und ein wilder Streit zwischen den Gelehrten und Generälen der großen Reiche. Kaiser Gottlieb III saß nachdenklich in seinem Thron und gab kein Wort von sich, bis er schlussendlich mit einem einzigen Ausruf Einhalt gebot. „Sendet Botschaften aus!“ sprach der weise König als Ruhe im Raum eingekehrt war. „Berichtet den größten Helden aller Reiche von der Prophezeiung! Die Höhle muss gefunden und das Schicksal um Rat gefragt werden.“ Zustimmend untermalte der weise Nostradanuss den Befehl des Königs mit einem Nicken und öffnete eine unscheinbare ebenfalls weiße Tasche aus der er ein ganzes Bündel versiegelter Pergamente zog. „Ich hatte auf diese Entscheidung ihrer Majestät gehofft und diese Botschaften verfasst. Sie können sofort an die Helden entsandt werden.“ „Dann sei es so!“ tönte Gottlieb III zufrieden „Es ist höchste Eile geboten! Bemannt die Eilpostgeschütze!“ Das letzte Wort war schon nicht mehr zu verstehen, als unverzüglich die Weisen und Krieger aus der Halle des Karotenenherrschers strömten, um dessen Befehl nachzukommen. Das war es! Der Beginn einer großen Geschichte und ich hatte die freie Wahl. Alle Helden des Landes brachen auf die selbe, abenteuerliche Mission auf und ich würde einen von ihnen begleiten. Doch wen? Süd Salatonien hatte lange keinen Helden verschleißenden großen Krieg mehr gesehen und so bot sich eine reiche Menge an vielversprechenden Teilnehmern für meine nächste Geschichte an. Schlussendlich traf ich meine Wahl und machte mich auf den Weg zu einem der meiner bescheidenen Meinung nach vielversprechendsten Helden Süd Salatoniens: Tjal, der tollkühne Tomatole! So flog ich gen Süden...“


„Sonderbar...“ Unterbrach der Spiegel. „Vor dem Götterbeben, als mein Blick noch weit in die Welt gewandt war, lag Tomatolien noch im Norden der vier Zentralreiche. Ein interessantes Volk, wenn auch ihre Geschichte sehr schnell erzählt ist. Wie so viele der Urvölker des zweiten Lebens begannen die Tomaten ihr Imperium mit der Monarchie. Ein guter König von kräftigem Tomatenmark führte das Reich an und ließ es zu höchster Blüte gedeihen. Als er jedoch in sehr hohem alter starb, entschied sich das Volk dazu, das Herrschaftssystem nach den Vorbildern eines großen Philosophen zu gestalten. Anders als die Nabanen beschlossen die Tomatolen ein einheitliches Volk zu gründen und persönliches Eigentum abzuschaffen. Dieses Prinzip setzte sich interessanterweise ausgesprochen gut in der Gemeinschaft durch und nur wenige Tomaten rebellierten und verließen schlussendlich das Land, um eine kleine Kolonie im Westen zu gründen. Ist es nicht so?“ Vergewissert sich der Spiegel, dem sein veraltetes Wissen inzwischen doch sehr am Ego gekratzt hat. „Bis aufs Wort.“ Klingt es prompt aus dem Schnabel des Federballs, der sich aus körperlicher Unausgeglichenheit im Laufe des Gesprächs auf den Kopf gestellt hatte und darauf rotierend ein quietschendes Geräusch erzeugt. „Und Tomatolien liegt noch immer im Norden. Tjal war stets bewusst, dass er zu höherem bestimmt war als sein Leben als einer von vielen zu fristen. So zog er sich, wie viele Exilanten seiner Art, nach Süden in die Weite Flur zurück.


Mit engagiertem Flatterflug erhob ich mich über die unaufmerksame Masse von meinem Dachbalken und glitt federleicht durch das immer noch geöffnete Mosaikfenster in die Außenwelt. Rege Panik herrschte auf dem Marktplatz Berelings. Wenn der Kriegsrat tagte und dieser nach der Ankunft eines Propheten in solche Hektik ausbrach, musste etwas Bedrohliches in der Luft liegen. Die einen schrieen „Die Tomatolen kommen! Seht in euren Kellern nach!!“ Doch dies war selbstverständlich unsinnig... oder zumindest sehr unwahrscheinlich, da Karotenen und Tomatolen seit Jahrzehnten oder länger in Frieden miteinander lebten. Ein anderer brüllte „Schützt die Königin!“ wieder einer „Das Ende ist nah! Außerweltliche erobern Süd Salatonien!“ darunter verkündete auch ein Marktschreier diese wirre Botschaft. Ich jedoch bahnte mir ungehindert meinen Weg über die Köpfe der Einwohner hinweg zum südlichen Verteidigungswall. Noch bevor ich über die Zinnen der letzten Verteidigungslinie Karotoniens hinweg glitt, hörte ich das gewaltige Donnern der Postkanonen. In besonders eiligen Fällen wie diesen, wurden Pergamente in Kristallkugeln oder Metallzylinder verpackt und mit riesigen Geschützen mehr oder weniger präzise in die Briefkästen der Empfänger quer durch das Land geschossen. Dies war wahnsinnig teuer und brachte die Gefahr mit sich, dem einen oder anderen Adressaten das halbe Haus wegzureißen. Deshalb wurde es sehr selten praktiziert.


Ich erhob mich über die Stadtmauern, die majestätische letzte Bastion gegen einen möglichen Ansturm aus den Appellien hinweg und verließ das Großreich um Bereling in eiligem Flatterflug. Die Dörfer und Kleinstädte des glorreichen Karotoniens zogen an mir vorüber und recht ereignislos näherte ich mich ungehindert der Südgrenze des Landes.


Auf dem Weg dorthin überflog ich ein kleines Ritterheer, das scheinbar eine Burg belagerte. Ein etwas in die Jahre gekommene Karotener erhob vom obersten Dachfenster aus seine eiserne Faust und rief dem Gesandten wütend zu, dessen Herr möge ihn im Arsche lecken. Ansonsten blieb die Reise bis zu den hohen Hügelketten, welche die Grenze zu Nabanees markierten, einen erzähltechnischen Zeitsprung wert. Wie ihr sicher wisst weiser Spiegel, sind die Zentralreiche in vier Großgebiete aufgeteilt von denen Karotonien im Osten liegt, im Norden, wie ihr bereits sagtet, grenzt das Reich Tomatolien an dieses und schließt gen Westen nach Gurkan ab. Südlich werden Gurkan und Karotonien von Nabanees begrenzt. In der Mitte dieser vier kreisförmig angelegten Reiche liegt der Welten- oder Zentralsee mit der Schwanenfestung und seinen ruhmreichen Verteidigern Süd Salatoniens. Dort versammeln sich die Völker zum Jahresende, um ihren persönlichen Göttern für das vergangene Jahr zu danken und um einen Segen für das nächste zu bitten. Doch ich schweife ab.


Die Hügelkette war nur eine gedachte Grenze. Karotenen und Nabanen waren trotz ihrer Gegensätzlichkeit starke Verbündete und gerade in den Grenzdörfern traf man viele Hütten des jeweils anderen Reiches an. Kurz bevor ich den Wall passierte, bemerkte ich noch den Schrein der Begegnung, von dem ich schon so oft gehört hatte. Hier auf dem höchsten Hügel der Kette zwischen den Reichen trafen sich Karotenen und Nabanen unabhängig von den anderen Völkern, um ihre Freundschaften zu festigen und Hochzeiten zwischen den Reichen zu feiern. Gute alte Zeiten“ „Was?“ „Nichts nichts.


Dann tauchte ich endlich in die Schönheit Nabanees ein. Zahlreiche putzige Dörfer, keines natürlich ohne eine Kirche, zierten meinen Weg nach Süden. Die Hauptstadt Nevark lag dabei leider nicht auf meinem Weg, doch diese, berühmt im Salatonischen Reiseführer aufgrund ihrer 125 Kathedralen, hatte ich bereits im vorigen Jahr besucht. Auf meinem weiteren Weg beobachtete ich noch ein lustiges Schauspiel: Auf einem Feld, einige Kilometer vor der nächsten Südgrenze, trafen Soldaten in verschiedenen Farben aufeinander und schlugen spaßeshalber mit harten Salamiwürsten und gefrorenen Forellen aufeinander ein. Dieses Spiel sollte die Einwohner Nabanees immer wieder an den scheußlichen Bürgerkrieg erinnern, in dem sie ihre Freiheit erlangt hatten.


Schon von weitem erblickte ich den riesigen Verteidigungswall, den die vereinten Völker der Zentralreiche nach dem großen Bärenkrieg errichtet hatten. Mehrere Meter ragte das gigantische Bollwerk am Horizont in den Himmel und schied die Zentralreiche gegen den Rest Süd Süd Salatoniens ab. Der imposante Eindruck, den der riesige Wall stets auf mich machte, ließ mich vor Unachtsamkeit beinahe an den gewaltigen Zinnen des Kriegsbauwerks zerplatzen. Nur knapp glitt ich über den Kopf eines Karotenensoldaten hinweg, der hier Wache hielt. Seit seiner Errichtung wurde der Wall von allen Völkern des inneren Reiches verteidigt, auch wenn es seit Jahrzehnten nicht mehr zu einem Angriff gekommen war.


Ab hier ging die Reise schneller voran. Vor fast einem Jahrhundert hatte eine engagiertes Reiseunternehmen von Grünschleifen Schjchu Schjchus in Süd Salatonien landesweite Windtunnel errichtet. Hierbei machten sich clevere Sturmarchitekten die verzwickten Windströmungen des Süd Salatonischen Himmels zu nutze und lenkten diese mit gurkanischer Technologie in feste Transportrouten. Diese halfen nicht nur allen möglichen Schjchu Schjchus bei der Bewältigung ihrer Geschäftsreisen, sondern beschleunigten auch die Paketlieferung und als erfreuliches Nebenprodukt die Reisezeiten von allem, was sich glücklich schätzen konnte über ein gesundes paar Flügel zu verfügen. So hielt ich die Luft an und tauchte durch den wirbelnden Wolkenkanal, der mich rasant weiter in den Süden transportierte.


Mit etwas Aufmerksamkeit konnte man auch noch durch den Windtunnel hindurch das Land unter sich erkennen. Im Süden des Landes hinter dem Verteidigungswall zeigte sich die Welt wie üblich von seiner schlechtesten Seite. Die Randgebiete, die einst zum Reich Nabanees gehörten, waren im großen Krieg größtenteils vernichtet und aufgegeben worden. Dort wo einst ebenso blühendes Leben wie in den Zentralreichen herrschte, finden sich heutzutage nur noch Ruinen alter Dörfer und Städte, verfallene Kirchen, verdorrte Felder und die Überreste der zahlreichen Toten von Bären, Nabanen, Karotenen, Appelliaten und dem einen oder anderen Tomatolen. Hurtig beschleunigte ich meine Flügelschläge, um dieses verfluchte Land, in dem angeblich noch immer die Geister der in der Schlacht Verstorbenen hausen sollten, hinter mir zu lassen und kam früher als erwartet an die Grenze der Ödlande.


Hier im Süden der Welt, hinter den verfluchten Randgebieten und noch vor dem Imperium der Bären, den ehemaligen Appellien, befand sich „Weite Flur“. Ein Gebiet reicher an Schönheit als die Zentralreiche und fernab jeglicher Technologie, Politik oder Religion. In der Weiten Flur hausten die Einwohner Süd Salatoniens, die sich nicht so recht in die Gesellschaft einfügen wollten. Kolonien der Tomatolen, vereinzelte Nabanengilden, hin und wieder ein Karotenenstamm oder eingeborene Cucurbiten, die mit ihren Verwandten doch so rein gar nichts gemeinsam hatten. Die Völker hier waren weder hoch entwickelt, noch besonders wohlhabend. Aber sie waren glücklich in ihrer Abgeschiedenheit und so war Süd Salatonien in seiner Gesamtheit zwar längst nicht perfekt, doch wer entschieden danach suchte, fand einen bestmöglichen Kompromiss für sich. Hier fernab der Eingliederung in die Gemeinschaft konnte der individuelle Geist sprießen und hier wurden auch die meisten Helden geboren. Astor, der heroische Stammesführer einer Karotenensippe, Qutzlko, der schamanische geistliche eines Cucurbitenhaines und auch Tjal, der tollkühne Tomatole.


Letzterer war in meinen Augen stets der größte Held gewesen. Mit nicht einmal fünf Jahren hatte er sich in die Einsiedlerei zurückgezogen und hier mit zehn Jahren einen hundertköpfigen Stoßtrupp der Bären abgewehrt, der nach Nabanees zog. So sagt man auch, dass nicht der riesige Südwall, sondern Tjal der Grund war, aus dem die Bären ihren Jahrezehnte andauernden Invasionsversuchen ein Ende setzten. Im jungen Alter von 12 Jahren machte er sich mit zwei Gefährten auf in die untersten Höllen von K’marr’Z’durr’ und drängte die unbezwingbaren Feuer in den Rachen des Finsterwurmes zurück. Und als die Unbekannten aus den Spitzbergen an den Westgrenzen des Reiches gesehen wurden, führte Tjal einen tapferen Kreuzzug gegen die Schatten, trieb diese für zahlreiche Jahre zurück und verlor dabei selbstlos sein rechtes Auge. In den letzten Jahren war es sehr ruhig um den Recken geworden, da Süd Salatonien die Bedrohungen ausgingen. Die Kriege der moderne wurden auf dem Schlachtfeld von Politik und Bürokratie ausgetragen und in beidem war das Schwert nicht mehr gefragt. Ohnehin hielt sich Tjal so weit es für einen Helden möglich war, aus den Geschehnissen der Zentralreiche zurück. Zuletzt war es seiner Hand zu verdanken, dass die Cucurbiten beim Freudenfest der tausend Sommer, das einzige Ereignis, dass sie leichtfertig aus ihrem Versteck lockte, nicht vollständig von den Schjchu Schjchus vernichtet wurden und nahezu unversehrt wieder in den Untergrund fliehen konnten.“


Der Spiegel seufzt und deutet ein schleierhaftes Kopfschütteln an. „Wenn ich es einem Volk gewünscht hätte, dass sich ihr Schicksal in den vergangen Jahrzehnten zum besseren gewandt hätte, so wären dies die Cucurbiten. Das erste Lebewesen des großen zweiten Anfangs, das vom Odem des Grüns beseelt eigenes Leben entwickelte, war Ismael, der erste Kürbis. Die Cucurbiten waren die wohl intelligentesten Einwohner Süd Salatoniens, da sie einen Intellekt besaßen, der ganz verschieden von dem war, den das Grün seinen Kindern schenkte. Sie sind ein geselliges Volk und verschwenden keinen Gedanken an Krieg und politische Verwirrungen. Ihre Leidenschaft gilt der Mathematik und dem logischen Kalkül. Ihre Intelligenz bescherte ihnen ein besonderes Händchen für die finanziellen Verwicklungen der Reiche und so verhalfen sie nicht selten der einen oder anderen Nation zu plötzlichem Wohlstand. Die Cucurbiten leben weit verstreut in Salatonien. Die kugeligen Wesen nahmen sich ihren Beruf so sehr zu Herzen, dass sich ihre Erscheinung im Laufe der Generationen einem bestimmen Klischee annäherte. Sie trugen durchweg lange weiße Bärte, dicke Geldsäcke für die Geschäfte auf dem Rücken und schwarze Sakkos mit passenden Zylindern für die Optik. Nach Hunderten von Generationen war dieser Brauch ihnen so in die Gene übergegangen, dass jeder kleine Kürbis schon mit Bart, Zylinder und Geldsack auf die Welt kam und lieber sterben wollte als eines von ihnen abzugeben.


Viele Jahrhunderte blieben die „neuen Völker“ Salatoniens unter sich. Sie gerieten, wie es der Lauf der Dinge nun einmal war, in den einen oder anderen Konflikt, jedoch nichts, was das Antlitz der Welt oder die Konstellation der Gemeinschaften nachhaltig beschädigte. So existierten sie Generation um Generation weitestgehend ruhig nebeneinander. Doch irgendwann im Laufe der zweiten Ära wurde den Salatoniern klar, dass sie nicht alleine auf der Welt waren. Wesen der alten Zeit hatten in geringen Zahlen in den Höhlen und Felsklüften auf abgeschiedenen Inseln außerhalb Süd Salatoniens überlebt und sich dort angesiedelt und weiterentwickelt. Da jegliche Konkurrenz bei der Vernichtung des ersten Lebens ausgelöscht wurde, konnten sich die wenigen Überlebenden frei entwickeln und so brachten sie Kreaturen hervor, die so unglaublich waren, dass sie den Wesen der alten Welt kaum noch ähnelten. Und wenn ich dir nun von den Cucurbiten berichte, muss ich unweigerlich auch von denen sprechen, die als erstes nach Süd Salatonien zurückkehrten.“ Schiel lauscht aufmerksam. Kennt sie diese Geschichte doch nur aus bruchstückhaften Erzählungen.


„Eines Tages, zu Beginn der zweiten Ära des zweiten Lebens nach der großen Zerstoßung, drangen Gerüchte über merkwürdige Kreaturen von den Einsiedlern im Nordosten her in das Zentralreich vor, in dem Karotenen, Nabanen, Tomatolen und Gurkaner sich die Herrschaft teilten. Die vier Mächte trafen sich in diplomatischer Mission und beschlossen einen Abgesandten aus jedem Reich in die Berge des nördlichen Ostens zu schicken und über diese Wesen zu berichten. Und so rückte die Gemeinschaft der vier Diplomaten aus, um eine erstaunliche Entdeckung zu machen:


Noch ehe sie die Randgebiete erreichten, trat ihnen ein Schwarm der geflügelten Neuankömmlinge in ebenso diplomatischer Mission entgegen, in welcher sie selbst gekommen waren. Die Rückkehrer stellten sich als Schjchu Schjchus vor und waren etwa 1,20m große Vögel mit blauem Gefieder. Gekleidet in einen langen schwarzen Frack mit weißem Hemd und schwarzer Fliege machten sie dabei einen äußerst intelligenten und zivilisierten Eindruck, der sich auch bestätigte, als sie sich, nicht ganz ohne vor Stolz geschwelltem Gefieder, als studierte Diplomhotelfachvögel auswiesen. Da sie von sich selbst behaupteten, friedlicher Absicht zu sein, hieß sie die Gesandtschaft der vier Völker im Reiche Salatoniens willkommen und innerhalb weniger Wochen boomte die Hotelkette der Schjchu Schjchus im gesamten Zentralreich. Am ausgiebigsten machten die Citorras von den Unterkünften Gebrauch, da sie über ihren zum Teil bemerkenswerten technologischen Stand, der den Gurkanern sehr nahe kam, jegliches handwerkliche Talent verlernt hatten und zum Erbauen von Häusern nicht mehr in der Lage waren. Ironischerweise zählten Citorras zur bevorzugten Nahrungsquelle der großen Vögel, so dass diese einen unfair profitablen Deal herausschlugen und Unterschlupf suchenden Citorras Unterkunft und Fraßschutz gegen horrende Summen anboten.


Doch so glimpflich traf es leider nur die Citorras. Eine der wichtigsten Eigenarten der Schjchu Schjchus war nicht der Frack, das Hemd oder die Fliege, sondern der Zylinder. Dieser war von einem bunten Band umgeben, dessen Farbe das Erkennungszeichen der verschiedenen Familien darstellte. Jede Schjchu Schjchu Familie oder Kaste hatte ihre eigenen speziellen Eigenschaften: Rotschleifen Schjchu Schjchus waren geschickte Empfangsvögel, Blauschleifen Schjchu Schjchus kannten sich gut im Verwalten der Finanzen aus, Grünschleifen Schjchu Schjchus waren hervorragende Raumgestaltungs- und Innenausstattungsvögel und so weiter. An dieser Stelle jedoch gilt es das komplizierte Geburtsritual der sonderbaren Zuwanderer zu erwähnen:


Wenn ein Schjchu Schjchu Pärchen Nachwuchs bekam, legte das Weibchen ein bereits 1,20m großes Ei. In diesem befand sich ein perfekt ausgewachsenes Schjchu Schjchu Küken mit Frack, Hemd und Fliege… jedoch ohne Zylinder! Ohne einen solchen waren die Schjchu Schjchus aber nicht lebensfähig und so hatte das Männchen nach dem Legen des Eis noch eine gute halbe Stunde Zeit einen frischen Zylinder zu besorgen. Panisch flatterte also solch ein werdender Vater durch das Zentralreich Süd Salatoniens, um sein Junges zu retten und erblickte dabei einen spazierenden Cucurbiten. Dieses Treffen führte unweigerlich zu einem kulturellen Konflikt: Da die Schjchu Schjchus sehr direkte Wesen und im Anbetracht der Situation recht forsch waren, deuteten sie nur fuchtelnd auf den Zylinder und krächzten so etwas wie „Her damit!“ oder „Gib mir das!“. Diese Umgangsformen jedoch waren für Cucurbiten höchst abstoßend und so erwiderten sie dies nur selten mit einem Einverständnis. Auf diese Weise schrumpfte die Zahl der hoch entwickelten Cucurbiten beträchtlich, ohne dass es eines der anderen Völker wagte gegen die Zuwanderer aufzubegehren. So waren die Bankiers und Steuerberater des Landes gezwungen in den Untergrund zu fliehen und in Kellergewölben und Zwischenwänden zu hausen. Gleichsam reduzierte sich auch die Anzahl der Schjchu Schjchus, so dass sich die beiden Völker stets gegenseitig bedingten.“


„Ein ebenso tragisches wie absurdes Schicksal für ein so großes Volk.“ Ein zustimmendes Grummeln des Spiegels. Schiel traf den Nagel auf den Kopf. Der Besucher schüttelt sich die Feuchtigkeit des Saales notdürftig aus dem Gefieder, rückt das Kissen zurecht und fährt erneut mit seinem Teil der Geschichte fort.


„Nun gut. Nachdem weite Teile der vor Wundern strotzenden Weiten Flur hinter mir lagen, erspähte ich vor mir eine kleine Hütte, abseits der Dörfer, nur an einem alten Feldweg gelegen. Das Dach war frisch mit Stroh gedeckt worden und aus dem kleinen Schornstein stieg eine friedlich wogende Rauchschwade auf. Kurz vor der Türschwelle lag eine geöffnete Kristallkugel, die eine Furche in den Boden und den verzierten Briefkasten weg gerissen hatte. Die Fenster des beschaulichen Hauses standen vom arglosen Helden offen gelassen und so konnte ich auf dem Sims landen und einen kleinen Blick in das innere der Wohnung werfen. Zwei Tage waren bereits vergangen, seit ich aus Bereling aufgebrochen war und die Eilbotschaft des Kaisers hatte den tollkühnen Tjal bereits erreicht, so dass die Tomate bereits ihren Abmarsch vorbereitete.

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